Musiker-Leben: bewegte und bewegende Geschichten

Die (Auto-) Biographien von Musikern, deren künstlerischer Output mir etwas bedeutet, haben mich schon immer interessiert: etwas über den Menschen hinter der Musik zu erfahren, ein bisschen mehr jedenfalls als aus Artikeln in den einschlägigen Presseerzeugnissen – das finde ich faszinierend. So stehen Bücher von und über Charles Mingus, Jon Hiseman, Barbara Thompson, Eric Clapton, Jimi Hendrix, Janis Joplin, John Mayall, Neil Young oder die Allman Brothers Band an exponierter Stelle in meinen Regalen. Manche davon habe ich auch hier auf meinem Blog erwähnt und besprochen. Und in den vergangenen Monaten sind wieder einige Werke hinzugekommen, von durchaus unterschiedlicher Qualität, auf die ich gerne hinweise.

Maxine Gordon: Sophisticated Giant. The Life and Legacy of Dexter Gordon. University of California Press, Oakland 2018, 279 Seiten

Kann es eigentlich gutgehen, wenn die Witwe eines berühmten Musikers, die noch dazu vor ihrer Ehe mit dem Verstorbenen lange Jahre als dessen Road Managerin fungiert hatte, eine Biographie über diesen musikalischen Giganten verfasst? Zugegeben: Ich war ein bisschen skeptisch. Würde das nicht bloße Lobhudelei und Heldenverehrung werden? Um mein Urteil vorwegzunehmen: Maxine Gordon hat sich dieser ebenso diffizilen wie sensiblen Aufgabe in beeindruckender Weise gestellt. Klar und sehr verständlich: Die Sympathie und Liebe für die Hauptperson des Buchs und seine musikalischen Leistungen ist auf jeder Seite spürbar. Dexter Gordon war ja wirklich einer der absolut stilprägenden Jazz-Saxophonisten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Dies angemessen und ausführlich zu würdigen, ist nicht mehr und nicht weniger als selbstverständlich in einer ordentlichen Biographie. Die Stärke von Maxine Gordons Buch liegt aber woanders. Maxine ist nämlich nicht nur Ehefrau des Protagonisten gewesen, sondern hat ausgewiesene Forschungserfahrungen im Bereich der Jazz-Geschichte und kann auf einschlägige Universitätsabschlüsse (B.A. in Soziologie, M.A. in „Africana Studies“) verweisen. Dementsprechend akribisch hat sie für diese Biographie geforscht, ist ganz tief in die Archive gestiegen, um Details über Dexter Gordons Leben zu eruieren. Und zwar vor allem jene Details, über die Dexter selbst am liebsten geschwiegen hat. Dazu gehören die von ihm als „verlorenes Jahrzehnt“ bezeichneten 50er Jahre, in denen er mehrfach wegen Drogenbesitzes im Gefängnis saß. Dazu gehören aber auch gescheiterte Beziehungen mit Frauen, deren Namen und Geschichte später nicht mehr erwähnt werden durften. Maxine Gordon hat sich nicht gescheut, diese blinden Flecken im Leben ihres verstorbenen Mannes zu erhellen – soweit dies Jahrzehnte später noch möglich war. So gelingt der Autorin nicht nur ein fesselnder Bericht über Dexter Gordons Leben. Man kann die Story seines Lebens vielmehr auch als ein Musterbeispiel für die Kulturgeschichte der Afro-Amerikaner in der Zwischen- und Nachkriegszeit lesen. Diese Geschichte handelt nicht nur von enormer Kreativität, sondern auch von brutalem Rassismus, von der inhumanen Behandlung drogenabhängiger Menschen und von der ökonomischen Ausbeutung ihrer Kreativität durch skrupellose Plattenfirmen.

Mein Fazit: eine ganz hervorragende Biographie, die schon längst eine Übersetzung ins Deutsche verdient hätte.

Daniel de Visé: King of the Blues. Das Leben des B.B. King. Reclam, Stuttgart 2023, 695 Seiten

Eine ähnliche Verbindung von Lebens- und Musikgeschichte mit der Historie der sozialen und ökonomischen Lebensverhältnisse der Schwarzen in den USA gelingt auch Daniel de Visé in seiner B.B. King-Biographie. Vor allem in den ersten Kapiteln, in denen es um Kings Kindheit, Jugend und erste Schritte ins Musik-Geschäft geht, beleuchtet der Autor nicht nur detailliert die familiären Hintergründe des Protagonisten, sondern gleichzeitig auch die armseligen Lebensbedingungen Schwarzer Sharecropper im tiefsten Mississippi-Delta. Dort musste Riley B. King (so der Geburtsname B.B.‘s) schon früh auf den Baumwollfeldern schuften, für eine auch nur ansatzweise solide Schulbildung fehlten Zeit und Geld. Dort, wo der Blues entstanden war, wo Musiker wie Blind Lemon Jefferson, Howlin‘ Wolf, John Lee Hooker, Robert Johnson oder Muddy Waters aufgewachsen und zu (zumindest vorerst: regionalen)  musikalischen Größen geworden waren, gab es vielfältige Einflüsse und Anregungen für Kings erste musikalischen Gehversuche. Diese wurden nicht zuletzt von Bukka White, einem erheblich älteren Cousin des jungen Riley, unterstützt, der sich schnell zu einem Mentor Kings entwickelte.  Dies alles ist auch für jemanden, der sich mit B.B. Kings späterer Karriere ein wenig befasst hat, sehr aufschlussreich und liest sich spannend. Und ähnlich wie Dexter Gordon hatte natürlich auch B.B. King mit rassistischen Vorurteilen zu kämpfen, wurde des Öfteren von Plattenlabels und Konzertveranstaltern um die ihm eigentlich zustehenden Einnahmen gebracht. So skizziert Visé anhand des detaillierten Lebensberichts ganz „nebenbei“ auch die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und des alltäglichen Rassismus in den USA.

Auch für Visé gilt (ähnlich wie für Maxine Gordon): Seine Sympathie für King ist unverkennbar, seine Liebe für dessen Musik ebenfalls. Aber auch er ist ein akribischer Forscher, der mit manchen Legenden aufräumt, die um Kings Leben gesponnen wurden. So war B.B. King aufgrund eines Unfalls mit einem Widder, der ihn, gerade 12 Jahre alt, an den Genitalien schwer verletzte, und wegen einer unzureichend behandelten Geschlechtskrankheit zeit seines Lebens zeugungsunfähig. Mit seinen beiden Ehefrauen hatte er jedenfalls bezeichnenderweise keinen Nachwuchs. Dass er dennoch 15 (!!) Kinder als die seinen anerkannte (und etliche weitere Vaterschaftsansprüche ablehnte), hatte auch mit der Legende des super-potenten Blues-Manns zu tun, die wohl nur zu gern akzeptierte. Die Schattenseiten des Protagonisten, sein mehr als ausschweifendes Sexualleben und seine krankhafte Spielsucht, werden ebenso thematisiert wie das doch ziemlich unrühmliche Ende einer überragenden Karriere, als der große B.B. King immer mehr der Demenz verfiel und trotzdem nicht von Live-Auftritten Abstand nehmen wollte. Visé hat sich zudem äußerst intensiv mit dem musikalischen Oeuvre Kings befasst. Und trotz aller Begeisterung bewahrt sich Visé eine kritische Distanz zu manchen nicht so gelungenen King-Produktionen. Die kommentierte Diskographie am Ende des Buchs ist gerade deshalb absolut lesenswert und sehr hilfreich für alle, die sich eine King-LP-Auswahl zulegen wollen.

Fazit: B.B. King ist unbestreitbar einer der wichtigsten Bluesmusiker überhaupt, sein Gitarrenspiel hat unzählige weiße Rockmusiker maßgeblich beeinflusst. Wer sich also für Blues interessiert und einen seiner hervorragendsten Protagonisten besser kennen lernen möchte, dem sei diese opulent detaillierte, sorgfältig recherchierte und zudem sehr schön bebilderte Biographie wärmstens empfohlen.

Julian Vignoles: Rory Gallagher. Der Mensch hinter der Gitarre. Mendoza Verlag, Wetzlar 2022, 420 Seiten

Rory Gallagher ist einer jene Gitarristen, die mich von Jugend an begeisterten. Sein künstlerischer Output steht als LP oder CD in meinen Regalen oder liegt als Datei auf einer externen Festplatte. Und zwar nahezu komplett. Doch über sein (viel zu kurzes!) Leben, er starb bekanntlich schon 1995, mit gerade mal 47 Jahren, weiß ich nicht allzu viel. „Der Mensch hinter der Gitarre“ – das interessierte mich sehr. Und ich erhoffte mir natürlich Aufschluss und neue Erkenntnisse von einer Biographie, die genau diesen Untertitel trägt. Doch meine Hoffnung, soviel vorab, wurde ziemlich enttäuscht.

Der Verfasser Julian Vignoles, ein irischer Journalist,  hat zweifellos eine Fleißarbeit abgeliefert, er hat wahrscheinlich so gut wie alles, was je über den Protagonisten seines Buchs veröffentlicht wurde, gelesen und verarbeitet. Er hat wohl auch einige Interviews geführt, um Licht ins Dunkel um Rorys Persönlichkeit abseits der Bühne zu bringen. Aber im Grunde ist diese Biographie nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine einigermaßen geschickt aufbereitete Materialsammlung, die sich zu einem ganz wesentlichen Teil aus Zitaten zusammensetzt, die schon anderswo veröffentlicht worden sind. Dazu kommen viele, viele Vermutungen und Spekulationen, was Rory Gallagher in den verschiedenen Stadien seiner Karriere gedacht, bewegt und motiviert haben könnte. Das ist – noch einmal: mehr oder weniger – plausibel. Doch gibt es viele Fragen, mit denen sich Rory Fans seit Jahren befassen: Warum hat er seine erste Band, Taste, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs aufgelöst? Warum musste Gerry McAvoy, sein treuer Begleiter am Bass, nach rund 20 Jahren die Band verlassen? War Rory wirklich autistisch und/oder depressiv veranlagt? Wie stand es um sein Liebes- und Beziehungsleben? Zu all diesen Fragen gibt es zwar Hinweise und Vermutungen, mehr aber auch nicht. Neue Erkenntnisse hat der Autor jedenfalls – leider – nicht zu bieten. Warum, so frage ich mich, hat der Vignoles nicht versucht, die (wenigen!) Frauen zu interviewen, von denen angenommen oder berichtet wird, dass sie eine – wie auch immer geartete – engere Beziehung zu Gallagher hatten?  Auch Rorys Bruder Donal, der Jahrzehnte lang sein Manager war und heute noch sein Erbe verwaltet, findet sich seltsamerweise nicht unter den in der Danksagung erwähnten Interview-Partnern. Und vielleicht hätte auch Brigitte „Bibi“ Lehmann, die sich über Jahre hinweg intensiv darum bemüht hat, Rorys Leben und Karriere zu dokumentieren (u.a. mit der von ihr – bis zu ihrem Tod im Dezember 2022 –   liebevoll betreuten Fan-Page auf Facebook), zur Aufklärung beitragen können.

Fazit: Diese Biographie gibt zwar einen durchaus kompetenten Überblick über Rory Gallaghers Karriere im Plattenstudio und auf der Bühne, über das Leben des „Menschen hinter der Gitarre“ hätte ich aber gern mehr erfahren.

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