Musiker-Leben: bewegte und bewegende Geschichten

Die (Auto-) Biographien von Musikern, deren künstlerischer Output mir etwas bedeutet, haben mich schon immer interessiert: etwas über den Menschen hinter der Musik zu erfahren, ein bisschen mehr jedenfalls als aus Artikeln in den einschlägigen Presseerzeugnissen – das finde ich faszinierend. So stehen Bücher von und über Charles Mingus, Jon Hiseman, Barbara Thompson, Eric Clapton, Jimi Hendrix, Janis Joplin, John Mayall, Neil Young oder die Allman Brothers Band an exponierter Stelle in meinen Regalen. Manche davon habe ich auch hier auf meinem Blog erwähnt und besprochen. Und in den vergangenen Monaten sind wieder einige Werke hinzugekommen, von durchaus unterschiedlicher Qualität, auf die ich gerne hinweise.

Maxine Gordon: Sophisticated Giant. The Life and Legacy of Dexter Gordon. University of California Press, Oakland 2018, 279 Seiten

Kann es eigentlich gutgehen, wenn die Witwe eines berühmten Musikers, die noch dazu vor ihrer Ehe mit dem Verstorbenen lange Jahre als dessen Road Managerin fungiert hatte, eine Biographie über diesen musikalischen Giganten verfasst? Zugegeben: Ich war ein bisschen skeptisch. Würde das nicht bloße Lobhudelei und Heldenverehrung werden? Um mein Urteil vorwegzunehmen: Maxine Gordon hat sich dieser ebenso diffizilen wie sensiblen Aufgabe in beeindruckender Weise gestellt. Klar und sehr verständlich: Die Sympathie und Liebe für die Hauptperson des Buchs und seine musikalischen Leistungen ist auf jeder Seite spürbar. Dexter Gordon war ja wirklich einer der absolut stilprägenden Jazz-Saxophonisten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Dies angemessen und ausführlich zu würdigen, ist nicht mehr und nicht weniger als selbstverständlich in einer ordentlichen Biographie. Die Stärke von Maxine Gordons Buch liegt aber woanders. Maxine ist nämlich nicht nur Ehefrau des Protagonisten gewesen, sondern hat ausgewiesene Forschungserfahrungen im Bereich der Jazz-Geschichte und kann auf einschlägige Universitätsabschlüsse (B.A. in Soziologie, M.A. in „Africana Studies“) verweisen. Dementsprechend akribisch hat sie für diese Biographie geforscht, ist ganz tief in die Archive gestiegen, um Details über Dexter Gordons Leben zu eruieren. Und zwar vor allem jene Details, über die Dexter selbst am liebsten geschwiegen hat. Dazu gehören die von ihm als „verlorenes Jahrzehnt“ bezeichneten 50er Jahre, in denen er mehrfach wegen Drogenbesitzes im Gefängnis saß. Dazu gehören aber auch gescheiterte Beziehungen mit Frauen, deren Namen und Geschichte später nicht mehr erwähnt werden durften. Maxine Gordon hat sich nicht gescheut, diese blinden Flecken im Leben ihres verstorbenen Mannes zu erhellen – soweit dies Jahrzehnte später noch möglich war. So gelingt der Autorin nicht nur ein fesselnder Bericht über Dexter Gordons Leben. Man kann die Story seines Lebens vielmehr auch als ein Musterbeispiel für die Kulturgeschichte der Afro-Amerikaner in der Zwischen- und Nachkriegszeit lesen. Diese Geschichte handelt nicht nur von enormer Kreativität, sondern auch von brutalem Rassismus, von der inhumanen Behandlung drogenabhängiger Menschen und von der ökonomischen Ausbeutung ihrer Kreativität durch skrupellose Plattenfirmen.

Mein Fazit: eine ganz hervorragende Biographie, die schon längst eine Übersetzung ins Deutsche verdient hätte.

Daniel de Visé: King of the Blues. Das Leben des B.B. King. Reclam, Stuttgart 2023, 695 Seiten

Eine ähnliche Verbindung von Lebens- und Musikgeschichte mit der Historie der sozialen und ökonomischen Lebensverhältnisse der Schwarzen in den USA gelingt auch Daniel de Visé in seiner B.B. King-Biographie. Vor allem in den ersten Kapiteln, in denen es um Kings Kindheit, Jugend und erste Schritte ins Musik-Geschäft geht, beleuchtet der Autor nicht nur detailliert die familiären Hintergründe des Protagonisten, sondern gleichzeitig auch die armseligen Lebensbedingungen Schwarzer Sharecropper im tiefsten Mississippi-Delta. Dort musste Riley B. King (so der Geburtsname B.B.‘s) schon früh auf den Baumwollfeldern schuften, für eine auch nur ansatzweise solide Schulbildung fehlten Zeit und Geld. Dort, wo der Blues entstanden war, wo Musiker wie Blind Lemon Jefferson, Howlin‘ Wolf, John Lee Hooker, Robert Johnson oder Muddy Waters aufgewachsen und zu (zumindest vorerst: regionalen)  musikalischen Größen geworden waren, gab es vielfältige Einflüsse und Anregungen für Kings erste musikalischen Gehversuche. Diese wurden nicht zuletzt von Bukka White, einem erheblich älteren Cousin des jungen Riley, unterstützt, der sich schnell zu einem Mentor Kings entwickelte.  Dies alles ist auch für jemanden, der sich mit B.B. Kings späterer Karriere ein wenig befasst hat, sehr aufschlussreich und liest sich spannend. Und ähnlich wie Dexter Gordon hatte natürlich auch B.B. King mit rassistischen Vorurteilen zu kämpfen, wurde des Öfteren von Plattenlabels und Konzertveranstaltern um die ihm eigentlich zustehenden Einnahmen gebracht. So skizziert Visé anhand des detaillierten Lebensberichts ganz „nebenbei“ auch die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und des alltäglichen Rassismus in den USA.

Auch für Visé gilt (ähnlich wie für Maxine Gordon): Seine Sympathie für King ist unverkennbar, seine Liebe für dessen Musik ebenfalls. Aber auch er ist ein akribischer Forscher, der mit manchen Legenden aufräumt, die um Kings Leben gesponnen wurden. So war B.B. King aufgrund eines Unfalls mit einem Widder, der ihn, gerade 12 Jahre alt, an den Genitalien schwer verletzte, und wegen einer unzureichend behandelten Geschlechtskrankheit zeit seines Lebens zeugungsunfähig. Mit seinen beiden Ehefrauen hatte er jedenfalls bezeichnenderweise keinen Nachwuchs. Dass er dennoch 15 (!!) Kinder als die seinen anerkannte (und etliche weitere Vaterschaftsansprüche ablehnte), hatte auch mit der Legende des super-potenten Blues-Manns zu tun, die wohl nur zu gern akzeptierte. Die Schattenseiten des Protagonisten, sein mehr als ausschweifendes Sexualleben und seine krankhafte Spielsucht, werden ebenso thematisiert wie das doch ziemlich unrühmliche Ende einer überragenden Karriere, als der große B.B. King immer mehr der Demenz verfiel und trotzdem nicht von Live-Auftritten Abstand nehmen wollte. Visé hat sich zudem äußerst intensiv mit dem musikalischen Oeuvre Kings befasst. Und trotz aller Begeisterung bewahrt sich Visé eine kritische Distanz zu manchen nicht so gelungenen King-Produktionen. Die kommentierte Diskographie am Ende des Buchs ist gerade deshalb absolut lesenswert und sehr hilfreich für alle, die sich eine King-LP-Auswahl zulegen wollen.

Fazit: B.B. King ist unbestreitbar einer der wichtigsten Bluesmusiker überhaupt, sein Gitarrenspiel hat unzählige weiße Rockmusiker maßgeblich beeinflusst. Wer sich also für Blues interessiert und einen seiner hervorragendsten Protagonisten besser kennen lernen möchte, dem sei diese opulent detaillierte, sorgfältig recherchierte und zudem sehr schön bebilderte Biographie wärmstens empfohlen.

Julian Vignoles: Rory Gallagher. Der Mensch hinter der Gitarre. Mendoza Verlag, Wetzlar 2022, 420 Seiten

Rory Gallagher ist einer jene Gitarristen, die mich von Jugend an begeisterten. Sein künstlerischer Output steht als LP oder CD in meinen Regalen oder liegt als Datei auf einer externen Festplatte. Und zwar nahezu komplett. Doch über sein (viel zu kurzes!) Leben, er starb bekanntlich schon 1995, mit gerade mal 47 Jahren, weiß ich nicht allzu viel. „Der Mensch hinter der Gitarre“ – das interessierte mich sehr. Und ich erhoffte mir natürlich Aufschluss und neue Erkenntnisse von einer Biographie, die genau diesen Untertitel trägt. Doch meine Hoffnung, soviel vorab, wurde ziemlich enttäuscht.

Der Verfasser Julian Vignoles, ein irischer Journalist,  hat zweifellos eine Fleißarbeit abgeliefert, er hat wahrscheinlich so gut wie alles, was je über den Protagonisten seines Buchs veröffentlicht wurde, gelesen und verarbeitet. Er hat wohl auch einige Interviews geführt, um Licht ins Dunkel um Rorys Persönlichkeit abseits der Bühne zu bringen. Aber im Grunde ist diese Biographie nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine einigermaßen geschickt aufbereitete Materialsammlung, die sich zu einem ganz wesentlichen Teil aus Zitaten zusammensetzt, die schon anderswo veröffentlicht worden sind. Dazu kommen viele, viele Vermutungen und Spekulationen, was Rory Gallagher in den verschiedenen Stadien seiner Karriere gedacht, bewegt und motiviert haben könnte. Das ist – noch einmal: mehr oder weniger – plausibel. Doch gibt es viele Fragen, mit denen sich Rory Fans seit Jahren befassen: Warum hat er seine erste Band, Taste, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs aufgelöst? Warum musste Gerry McAvoy, sein treuer Begleiter am Bass, nach rund 20 Jahren die Band verlassen? War Rory wirklich autistisch und/oder depressiv veranlagt? Wie stand es um sein Liebes- und Beziehungsleben? Zu all diesen Fragen gibt es zwar Hinweise und Vermutungen, mehr aber auch nicht. Neue Erkenntnisse hat der Autor jedenfalls – leider – nicht zu bieten. Warum, so frage ich mich, hat der Vignoles nicht versucht, die (wenigen!) Frauen zu interviewen, von denen angenommen oder berichtet wird, dass sie eine – wie auch immer geartete – engere Beziehung zu Gallagher hatten?  Auch Rorys Bruder Donal, der Jahrzehnte lang sein Manager war und heute noch sein Erbe verwaltet, findet sich seltsamerweise nicht unter den in der Danksagung erwähnten Interview-Partnern. Und vielleicht hätte auch Brigitte „Bibi“ Lehmann, die sich über Jahre hinweg intensiv darum bemüht hat, Rorys Leben und Karriere zu dokumentieren (u.a. mit der von ihr – bis zu ihrem Tod im Dezember 2022 –   liebevoll betreuten Fan-Page auf Facebook), zur Aufklärung beitragen können.

Fazit: Diese Biographie gibt zwar einen durchaus kompetenten Überblick über Rory Gallaghers Karriere im Plattenstudio und auf der Bühne, über das Leben des „Menschen hinter der Gitarre“ hätte ich aber gern mehr erfahren.

Sophisticated Giant: 100 Jahre Dexter Gordon

Dexter Gordon, der am 27. Februar 1923 in Los Angeles das Licht der Welt erblickte, ist mit Sicherheit einer der wichtigsten und stilprägendsten Saxophonisten der Jazz-Geschichte. Seine Karriere umfasste – mit Unterbrechungen, auf die wir noch zu sprechen kommen – fünf Jahrzehnte und hat viele sozusagen klassische Jazz-Songs hervorgebracht. Man kann die Story seines Lebens aber auch als Musterbeispiel für die Kulturgeschichte der Afro-Amerikaner in der Zwischen- und Nachkriegszeit lesen. Diese Geschichte handelt nicht nur von enormer Kreativität, sondern auch von brutalem Rassismus, von der inhumanen Behandlung drogenabhängiger Menschen und von der ökonomischen Ausbeutung ihrer Kreativität durch skrupellose Plattenfirmen.

Dexter wurde am 27. Februar 1923 in Los Angeles geboren. Sein Vater war Arzt, der zweite schwarze Arzt, den es in L.A. überhaupt je gegeben hat, und daher (für schwarze Verhältnisse) relativ wohlhabend. Seine Mutter hatte Vorfahren aus Madagaskar (Dexters Urgroßmutter war von dort nach Frankreich emigriert) und Frankreich (Normandie), die über Kanada in die USA kamen. (Ihr Geburtsname Baker war die englische Übersetzung für „boulanger“.) In seinem Elternhaus hörte er nicht nur Jazz-Platten, aber zu den Patienten seines Vaters gehörten berühmte Musiker wie Duke Ellington und Lionel Hampton, die auch öfters mal zum Essen zu Gast waren. Musikalisches Talent bekam er sowohl von väterlicher als auch mütterlicher Seite in die Wiege gelegt. Sein Vater hatte sich sein Medizinstudium mit dem Klarinettenspiel verdient, sein Großvater mütterlicherseits war erster Trompeter in einer Army-Band gewesen. Sein Vater starb schon mit 49 Jahren an einem Herzinfarkt – da war Dexter gerade 14 Jahre alt.

Dexter genoss eine sehr solide musikalische Ausbildung. Zu seinem offensichtlichen Talent kamen gründliche Kenntnisse in Musiktheorie und Harmonielehre. Sein Lehrer war Lloyd Reece, der u.a. auch Charles Mingus unterrichtete. Gordon begann wie der Vater mit der Klarinette, wechselte als Teenager zum Altsaxophon, bevor Tenoristen wie Ben Webster und vor allem Lester Young in der Bigband Count Basies ihn überzeugten, dass das Tenor-Sax das Instrument seiner Wahl sein müsse. Er spielte in Schüler-Bands an der High School, dort schon mit späteren Jazz-Größen wie Chico Hamilton und Buddy Collette. Gordon, der 1,98 m groß war, war eine imposante Erscheinung. Zwei seiner Spitznamen „Long Tall Dexter“ und „Sophisticated Giant“ (deutsch in etwa: kultivierter Riese) nahmen darauf Bezug.

Lehrzeit bei den Spitzen-Jazzern

Marshall Royal, Manager der Lionel Hampton Bigband und auch ein ehemaliger Patient von Dexters Vater, war es, der die Bahn ebnete für Gordons Karriere: Mit 17 engagierte er ihn für das Orchester des Swing-Stars. Dort spielte Gordon neben Illinois Jacquet und duellierte sich alsbald mit ihm und reifte zu einem wirklich guten Musiker heran. Bis 1943 dauerte diese Lehrzeit, aus der nur wenige Plattenaufnahmen (die ersten stammen vom Dezember 1941) existieren, die Dexter allerdings nur im  Saxophon-Satz hören lassen, nicht aber als Solist. Die ersten Aufnahmen von Dexter selbst stammen aus dem Jahr 1943, da war er also erst 20 Jahre alt, mit so bekannten Jazzern wie Nat King Cole und Harry Sweets Edison an seiner Seite.

Hörbeispiel: Dexter Gordon: I Blowed and Gone (1943)

Einige Wochen spielte er im Orchester von Fletcher Henderson, ehe er von keinem geringeren als Louis Armstrong für dessen Band engagiert wurde (von Mai bis November 1944). Die „Lehrzeit“ Dexters ging mit einem Engagement in einer der damals innovativsten Bigbands zu Ende: Er wurde Nachfolger Lucky Thompsons im Orchester des Sängers Billy Eckstine. Und diese Band war Mitte der 40er Jahre eine Brutstätte des Bebop, die erste moderne Bigband in der Geschichte des Jazz. Die Liste der Musiker, die bei Eckstine spielten und später zu herausragenden Figuren des Jazz wurden, ist schier unendlich: Charlie Parker, Gene Ammons, Miles Davis, Dizzy Gillespie, Wardell Gray, Sonny Stitt und Art Blakey gehörten dazu. Eckstine gewährte seinen Band-Mitglieder viele Freiheiten, sowohl im Orchester selbst als auch außerhalb.

So etablierte sich Dexter sehr schnell in den New Yorker Clubs in der 52. Straße, die als Geburtsorte des Bebop gelten, weil dort die Evolution vom Swing zum ersten modernen Jazz-Stil vorangetrieben wurde. Interessant vielleicht: Die allermeisten schwarzen Musiker, die an dieser Entwicklung beteiligt waren, wurden als untauglich (aus welchen Gründen auch immer) eingestuft oder aber verweigerten sich selbst dem Kriegsdienst, sehr oft deshalb, weil sie nicht für ein Land kämpfen wollten, das sie immer noch diskriminierte und als Bürger zweiter Klasse behandelte. Gegen Ende des Krieges entstand also eine ganz neue Musikform, die  schwarze Kultur explodierte förmlich mit einer bis dahin unbekannten Fülle und Vitalität. Die Musiker durchbrachen die Grenzen, die ihnen in den traditionellen Swing-Bands auferlegt wurden, und erprobten Improvisationen, die sie in unbekannte Räume führten: Jeder Abend diente dazu, die Musik neu zu erfinden, glanzvolle und innovative Improvisationen, Harmonien, Tempi, komplexe Rhythmen.

Gemeinsam mit Sonny Stitt, Leo Parker und John Jackson bildete Dexter in der Eckstine-Band einen Saxophon-Satz, der seinesgleichen suchte und mit dem es keine andere Band aufnehmen konnte. „The Unholy Four“ wurden sie genannt, auch weil sie sich eines wilden und manchmal ungebührlichen Benehmens befleißigten. Das Rauchen von Joints im Tour-Bus gehörte selbstverständlich dazu. Dexter kam öfter mal zu spät zu den Proben, war offenbar noch high. Als er Eckstines Aufforderung, sich zusammenzureißen, nicht folgte, wurde er schließlich im Februar 1945 gefeuert.

Dies alles geschah in der Zeit des sog. Record Bans, als vom August 1942 bis September 1943 keine Platten mehr aufgenommen wurden, weil die Musikergewerkschaft streikte, um bessere Tantiemen zu erreichen. So schien es, als sei der Bebop aus dem Nichts entstanden – was natürlich nicht stimmte. Aber als die ersten Platten mit den führenden Beboppern erschienen, bei Decca und bei Savoy, wirkten diese Aufnahmen natürlich umso revolutionärer.

Politische Ökonomie des Jazz

Auch Dexter Gordon unterschrieb bei Savoy. Und das gibt uns die Gelegenheit, einen kurzen Blick auf die politische Ökonomie der Jazzmusik in den Nachkriegs-USA zu werfen. Dexter erhielt für seine erste Aufnahme-Session ein Honorar von 60 Dollar. Savoy sicherte sich vertraglich die Option für vier weitere Sessions. Die Begleitmusiker erhielten je 40 Dollar. Für die weiteren Sessions sollte Gordon je 75 Dollar erhalten, in einem Folgevertrag bekam er dann 100 Dollar. Die Rechte für die Original-Kompositionen Gordons gingen jedoch an die Plattenfirma, und zwar für immer. Dexter sollte lediglich einen Cent Tantiemen pro verkaufter Platte erhalten. Aber: „Dexter wurden nie auch nur einmal von Savoy Tantiemen ausbezahlt.“ Das schreibt Maxine Gordon in ihrer Biographie über ihren verstorbenen Mann. Und: Der Vertrag war ein Exklusiv-Vertrag. Das heißt: Während der Laufzeit des Vertrags durfte Dexter für keine andere Plattenfirma Aufnahmen machen. Und wohlgemerkt: Das war der Standard-Vertrag der damaligen Zeit, der die Billigung der Musiker-Gewerkschaft hatte. Dexter spielte für Savoy 16 Kompositionen ein, deren Rechte 70 Jahre bei der Plattenfirma lagen und somit auch alle Einnahmen, die damit – von den ursprünglichen 78er-Schellacks über LPs, CDs bis zu den heutigen Streaming-Erlösen – in den Taschen des Savoy-Eigners Herman Lubinsky und dessen Erben gelandet sind. Der Mann, der die kreative Seite dieses Geschäfts abdeckte, mit seinem Kompositionstalent und seiner Spielkunst auf dem Saxophon, wurde dagegen mit einem Taschengeld abgespeist. Was diese Hungerlöhne und die ausschließliche Copyright-Nutzung durch die Plattenfirmen für die Lebensbedingungen der Musiker bedeuteten, lässt sich leicht vorstellen. Dexter beispielsweise lebte damals, Ende der 40er Jahre, eine Zeitlang mit Miles Davis und dem Schlagzeuger Stan Levey in einem Einzelzimmer im Dewey Square Hotel an der 116. Straße in Harlem – und die drei teilten sich abwechselnd das einzige Bett in diesem Zimmer.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – Blow Mr. Dexter (1945)

Der erste moderne Tenorist!

Gordon war einer der ersten Tenor-Saxophonisten, die das neue musikalische Vokabular des Bebop und seiner Protagonisten (wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Bud Powell) auf dem Tenorsaxophon  umsetzten. Manche Jazz-Historiker bezeichnen den sensiblen Hünen sogar als den allerersten Tenoristen der Jazz-Moderne. Seine überragende Stellung erklärt sich vor allem daraus, dass er sozusagen ein musikgeschichtliches Bindeglied, ein Knotenpunkt verschiedener Strömungen und Traditionsstränge darstellte: Er versöhnte und verband in der Bebop-Ära in seiner Spielweise die widersprüchlichen Auffassungen der beiden führenden Tenoristen der Swing-Ära, nämlich des eher „coolen“ Lester Young und des eher „hot“ und „soulful“ spielenden Coleman Hawkins. Gleichzeitig übertrug er die Innovationen des Altisten Charlie Parker auf das Tenor-Sax und ebnete so den Weg für die Modernisten der 50er und 60er Jahre. Etliche Jazz-Historiker unterstreichen diese Bedeutung mit dem Hinweis, er habe das erste Bebop-Solo auf dem Tenorsaxophon überhaupt gespielt, jedenfalls jenes, das auf Schallplatte aufgenommen wurde. Nämlich bei „Blowin‘ the Blues Away“ in der Billy Eckstine-Band (5.12.1944) Namentlich Sonny Rollins und John Coltrane oder auch Jimmy Heath nannten Dexter Gordon sehr nachdrücklich als bedeutenden Einfluss auf ihre Entwicklung und Spielweise.

Hörbeispiel: Billy Eckstine Orchestra ft. Dexter Gordon – Blowing the Blues Away

Dexters Kunst

Kaum einer beherrschte wie er die Kunst, in seine Soli musikalisch passende Zitate einzubauen. Balladen klangen bei ihm bei aller Gefühlstiefe ganz und gar unsentimental. Nur ganz wenige Solisten konnten wie er auch sehr lange Improvisationen ohne Brüche spielen, zehn Minuten vergehen da wie im Fluge. Dexters Sound ist warm und robust, von machtvoller Lautstärke. Gleichzeitig ist dieser Sound – darin Lester Young folgend – wesentlich trockener als bei anderen Bebop-Tenoristen, er verzichtet auf Schnörkel und ist sehr direkt, konzentriert auf das Wesentliche. Dexter Gordon war also viel mehr als ein Charlie Parker am Tenor-Sax. Im Bebop, oft genug ein Synonym für unglaublich schnell gespielte, nervöse, hektische und aus unendlich vielen Tönen bestehende Musik, bewahrte sich Dexter Gelassenheit, ließ sich bei aller Virtuosität nie dazu verleiten, eine überflüssige Note zu spielen.

Die 50er Jahre: das verlorene Jahrzehnt

Dexters Zeit in New York und den After Hours-Clubs der 52. Straße waren musikalisch ungeheuer produktiv, hatten aber auch eine Schattenseite: Gordon, einem Joint schon als Jugendlicher nie abgeneigt, bekam Kontakt zur Welt der „harten“ Drogen, leider keine Seltenheit in der damaligen Jazz-Szene. Maxine Gordon, Dexters letzte Ehegattin, gibt in ihrer Biographie eine Schilderung Dexters aus dem Jahr 1945 wieder, die sehr anschaulich zeigt, wie der ja erst 22-jährige von Billy Holiday in ein luxuriöses Drogen-Etablissement in Harlem, „Mae’s Place“ in der 114. Straße, eingeführt wurde. Dort gab es alles, was sein Herz begehrte: Kokain, Heroin, Opium, Marihuana – alles in bester Qualität. Dexter Gordon und die Drogen – das wurde zu einer verhängnisvollen Mesalliance, die sein Leben noch etliche Jahre bestimmen sollte. Vor allem die 50er Jahre wurden deshalb – so sah er es selbst – zu einem verlorenen Jahrzehnt. 1946 wurde er erstmals verhaftet, 1948 kam er erstmals wegen Drogenbesitzes ins Gefängnis. Bis Juni 1952 arbeitete er dann wieder in Clubs und machte auch einige Schallplattenaufnahmen. In diese Zeit fielen auch seine Heirat mit Josephine Notti, Jodi genannt, und die Geburt seiner zwei Töchter. Es gab also auch positive Seiten. (Die Ehe mit Jodi wurde 1966 geschieden, als er bereits in Europa lebte.) Seit Ende  Mai 1953 saß er dann für 15 Monate bis August 1954 im Chino Prison, 35 Meilen östlich von L.A. hinter Gittern. Das war ein für US-amerikanische Verhältnisse eher humaner Knast, Dexter durfte in der Gefängnis-Bibliothek arbeiten und konnte sich dabei sogar selbst Französisch beibringen. 1955, nach seiner Entlassung auf Bewährung, konnte er auch wieder einige Plattenaufnahmen machen.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – Jodi (1960)

Aber es erging Gordon wie vielen anderen Musikern in L.A.: Man konnte wegen der äußerst strengen Drogen-Gesetze in Kalifornien schon eingesperrt werden, wenn man Nadel-Einstiche an den Armen hatte oder irgendwelche Substanzen im Blut festgestellt wurden. Etliche Zeit verbrachte er auch in einer Anstalt für Drogenabhängige, in Lexington (Kentucky), die für ihre zermürbenden Entgiftungsmethoden berüchtigt war. Wie viele andere berühmte Jazz-Musiker übrigens: Howard McGhee, Tadd Dameron, Lee Morgan und Elvin Jones wurden dort ebenfalls „behandelt“.

Wenig später starb sein Freund und Tenor-Kollege Wardell Gray (mit dem er sich spektakuläre musikalische Duelle geliefert hatte) unter ungeklärten Umständen, wohl aber an einer Überdosis Heroin. Für Dexter begann ein Teufelskreis aus Verhaftungen, Entlassung auf Bewährung, erneuten Strafen. Die letzten Monate, bis zu seiner Entlassung auf Bewährung im Februar 1960, verbrachte er sogar im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Folsom. Über diese Zeit sprach Dexter nie. Als er erste Notizen für seine Biographie niederzuschreiben begann und seine Frau merkte, dass da zehn Jahre fehlten, sagte er zu ihr: „Wenn du die 50er Jahre in diesem Buch haben willst, dann musst du selbst darüber schreiben. Ich will nicht mehr daran denken, auch nicht darüber reden oder etwas darüber schreiben.“

Comeback und Leben in Europa

Nach seinem vorerst letzten Gefängnis-Aufenthalt kehrte Dexter zunächst nach L.A. zurück. Dort hatte er den Job bekommen, für das Theaterstück „The Connection“ die Musik zu schreiben. Und er sollte in diesem Theaterstück auch eine Rolle übernehmen, die des – natürlich: drogenabhängigen – Bandleaders. Es ist das große Verdienst von Cannonball Adderley, den frisch aus der Haft entlassenen (und inzwischen fast in Vergessenheit geratenen) Musiker wieder zurück ins Plattenstudio gebracht zu haben. Er produzierte das Comeback-Album mit dem passenden Titel „The Resurgence of Dexter Gordon“ (resurgence = Wiederauferstehung). Nach dieser Platte erhielt er einen Vertrag mit Blue Note. Und für dieses Label nahm er in den folgenden Jahren etliche Klassiker auf: Dexter Calling (darauf enthalten sind auch einige der Kompositionen, die Dexter für das Theaterstück geschrieben hatte), A Swingin‘ Affair, Go! (dieses Album nannte Dexter später selbst seine Lieblingsplatte – es enthält u.a. die Komposition „Cheese Cake“, die von vielen Jazz-Kritikern als die Quintessenz von Dexter Gordons Spiel bezeichnet wird), Our Man in Paris. Außerdem fungierte Gordon auch als Sideman bei diversen Blue-Note-Einspielungen anderer Künstler, so z.B. bei der Debüt-LP Herbie Hancocks (Takin‘ Off), bei der er auf dem legendären Song „Watermelon Man“ mitspielt.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – Cheese Cake (1962)

Aber von den Plattenaufnahmen und den dafür gezahlten Honoraren konnte damals kein Jazz-Musiker, auch kein so renommierter wie Dexter Gordon, leben. Wir kehren noch einmal zu dem zurück, was ich oben die „politische Ökonomie“ des Jazz genannt habe: Selbst bei einer Plattenfirma wie Blue Note, die eigentlich für die gute Behandlung der bei ihr unter Vertrag stehenden Musiker bekannt war, gab es nur lächerliche 3 Prozent von jedem verkauften Album, das entsprach 14,25 Cent beim damaligen Verkaufspreis von 4,76 Dollar. Wobei noch nicht einmal sicher war, dass dieser Betrag auch bei den Musikern ankam, denn eine Kontrolle über die Verkaufszahlen hatten sie natürlich nicht…  Die Platten waren deshalb eher Werbemittel für die Live-Auftritte, mit denen die Jazzer den Löwenanteil ihres Lebensunterhalts verdienten. Genau das aber wurde dem vorbestraften Dexter Gordon in New York, wohin er nach dem Ende seiner Bewährungsfrist (am 14. April 1961) zurückgekehrt war, nahezu gänzlich unmöglich gemacht: Wegen seines im Gefängnis gesühnten Drogenbesitzes und –konsums (das waren übrigens die einzigen „Delikte“, die er sich hatte zuschulden kommen lassen, nie war er in Beschaffungs- oder Gewaltkriminalität verwickelt gewesen!) wurde ihm die „cabaret card“ verweigert, die für Clubs mit Alkohol-Ausschank Voraussetzung war. Das kam quasi einem Berufsverbot gleich.

So packte Gordon 1962 seine Koffer, um einige Konzerte im Ronnie Scott’s Club in London zu spielen. Obwohl er dies ursprünglich gar nicht so beabsichtigt hatte, blieb er schließlich 14 Jahre in Europa. Nur gelegentlich, für Plattenaufnahmen vor allem, kehrte er kurzzeitig in die USA zurück. Dennoch verblasste dort sein Stern, trotz zahlreicher Plattenveröffentlichungen, ganz einfach, weil er kaum mehr live zu sehen war. Die einzige Ausnahme war ein sechsmonatiger Aufenthalt von Dezember 1964 bis Mai 1965, wo er einige Auftritte und auch Plattenaufnahmen mit einem längeren Besuch bei seiner Frau und seinen beiden Töchtern in L.A, verband. Diese Zeit stand allerdings unter einem schlechten Stern, seine Ehe war mehr oder weniger zerrüttet, und er selbst kehrte zu den Drogen zurück, mit den Plattenaufnahmen war er nicht zufrieden. Und im Februar wurde Malcolm X ermordet, den er aus seiner Zeit in Harlem in den 40er Jahren kannte. Grund genug für Dexter, nach Europa, nach Kopenhagen, zurückzukehren.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – Soy Califa (1962)

Denn die dänische Hauptstadt war so etwas wie seine zweite Heimat geworden. Dort kam er im Oktober 1962 an, um im Anschluss an sein Engagement im Ronnie Scott’s Club im dortigen Jazzclub Montmartre aufzutreten. Und dort schlug er schließlich sozusagen sein Hauptquartier auf, war sehr oft live dort zu hören. (Kleine Randnotiz: Im Publikum des allerersten Abends im Montmartre saß auch Torben Ulrich, ein dänischer Schriftsteller, Musiker, Maler und Filmemacher, mit dem Dexter später eng befreundet war und sogar Patenonkel für dessen 1963 geborenen Sohn Lars wurde. Dieser Lars wurde später Mitbegründer und Schlagzeuger der Heavy Metal-Band Metallica…)  Dexter fühlte sich wohl in Kopenhagen, schloss Freundschaften, mochte die dänische Küche, lebte mit einer Dänin namens Lotte Nielsen zusammen.

Regelmäßig wurden seine Konzerte im dänischen Rundfunk übertragen. Er machte in Europa – wie viele andere US-amerikanische Exilmusiker – die Erfahrung, dass man dort eher dazu bereit war, Schwarze als gleichwertige Menschen und Jazzmusiker als Künstler zu behandeln. Das heißt natürlich nicht, dass es in Europa keine Probleme für Dexter gab. In Paris, auch dort fühlte er sich sehr wohl, wurde er im Mai 1966 wegen des Kaufs und Besitzes von Drogen verhaftet und saß dann zwei Monate in Paris im Gefängnis. Die Presse stürzte sich darauf, auch weil seine dänische Freundin Lotte Nielsen involviert war. („Negro jazzman and Danish blonde“ hieß es in den Schlagzeilen…). Erst Ende November wurde der Fall mit einem Gerichtsurteil (3-monatige Bewährungsstrafe plus eine relativ geringe Geldstrafe) zu den Akten gelegt. Dies war glücklicherweise das letzte Mal, dass Dexter ein Gefängnis von innen sehen musste. Und er versprach sich, endlich wirklich clean zu werden – und konnte dieses Versprechen (jedenfalls was das Heroin betrifft) auch halten.

Nach diesem Urteil wollte das dänische Innenministerium ihm die Wiedereinreise und eine Arbeitserlaubnis verweigern. Dänische Freunde und Fans organisierten daraufhin eine Kampagne, sie wollten das nicht hinnehmen: Es gab sogar eine Demonstration unter dem Motto „We want Dexter, we don’t want the NATO!“, letztendlich mit Erfolg. Im März 1967 durfte Dexter zurück nach Kopenhagen. Beruflich und musikalisch lief es seither wieder gut. Privat hatte er den Tod seiner – damals schon ehemaligen – Freundin Lotte Nielsen zu verkraften. Ende 1966 hatten sie sich wohl getrennt, waren aber immer noch freundschaftlich verbunden. Im Juni 1967 besuchte er sie im Krankenhaus, einen Tag später starb sie, erst 28-jährig, an einer Gehirnblutung. Vier Tage später stürmte Lottes Vater ins Montmartre, wo Dexter einen Auftritt hatte, fuchtelte mit einem Revolver herum und drohte damit, Dexter zu erschießen, weil er ihn für den Tod seiner Tochter verantwortlich machte. Am übernächsten Tag versuchte Dexter, sich mit einer Überdosis Schlafmittel selbst das Leben zu nehmen, wurde aber rechtzeitig entdeckt und gerettet.

Gordon versuchte jedoch weiterhin, ein „normales“ Leben zu führen: er lernte Dänisch, fuhr Fahrrad, kaufte Anfang der 70er Jahre schließlich ein Haus und wurde so etwas wie Kopenhagener Einheimischer. Er heiratete Fenja Nielsen, mit der er den 1975 geborenen Sohn Benjie (nach Ben Webster benannt!) hatte. Trotz seiner Versuche, in Dänemark heimisch zu werden, verfolgte er das politische Geschehen in den USA sehr sorgfältig. Die Ermordung von Martin Luther King und die darauf folgenden Unruhen in mehr als 100 US-Städten waren Horror-Nachrichten, an Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg beteiligte er sich. Und die erhobenen Fäuste von Tommie Smith und John Carlos bei der Siegerehrung während der Olympischen Spiele in Mexiko hatten seine volle Sympathie. (Er ließ sie sogar auf seiner Weihnachtskarte für 1968 „verewigen“!)

Gordon hatte in Europa genügend Auftrittsmöglichkeiten, in Skandinavien, in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Frankreich. (Zwei Söhne waren das Ergebnis von kurzzeitigen Beziehungen auf Tourneen bzw. in Kopenhagen. Diese beiden Söhne, Mikael und Morten, lebten nie bei Dexter, Morten hat er sogar niemals kennen gelernt.) Und er konnte mit den vielen anderen Exil-Musikern zusammenspielen. Kenny Drew beispielsweise wurde sozusagen sein Hauspianist. Es gab außerdem gemeinsame Auftritte und Plattenaufnahmen mit – um nur die wichtigsten zu nennen – Bud Powell, Johnny Griffin, Kenny Dorham, Ben Webster und Booker Ervin. Aber natürlich auch mit den besten europäischen Jazzern, Tete Montoliu zum Beispiel. Alex Riel und Niels-Henning Örsted Pedersen gehörten regelmäßig zu seiner Working Band. Die gemeinsame Platte mit Booker Ervin führte nach dem Auslaufen seines Kontrakts mit Blue Note schließlich zu einem Vertrag mit Prestige Records (von 1969 bis 1973), für die er einige sehr schöne Alben seiner „mittleren“ Schaffensperiode aufnahm. Mit Ende Vierzig verfügte sein Spiel noch über den kraftvollen Ton der Jugend, aber bereits über die Erfahrung und Weisheit des Alters. Allerdings: Große Aufmerksamkeit erlangte er mit diesen Platten, die sich modischen Tendenzen konsequent verweigerten, leider nicht.

Dexter Gordon blieb seinem Stil und seiner Spielweise lebenslang treu – egal was im Jazz gerade angesagt war: Cool Jazz, Free Jazz, Jazz Rock und Fusion Jazz interessierten ihn höchstens am Rande. In den Up-Tempo-Stücken erweist er sich als gelassenster Tenorist des Bebop, immer ein Zitat auf den Lippen bzw. im Mundstück, meisterhafte Chorus-Architektur in den Soli. Und bei den Balladen: unsentimental, aber aufrichtig und authentisch.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – Body and Soul (1970)

Rückkehr ins Jazz-Mutterland

In den USA, dem Jazz-Mutterland, erkannte man den Klassiker-Status von Dexter Gordon erst spät, nach seiner Rückkehr aus Europa. Das war im Jahr 1976, und er hatte das Glück, dass es bei vielen Jazz-Fans nach Jahren des elektrifizierten Fusion Jazz wieder mehr Offenheit für genuinen, akustischen Straight-Ahead-Jazz gab.

Seine Frau und sein Sohn zogen mit ihm in die USA, aber die Ehe überlebte diese Rückkehr nicht: Dexter nahm sein altes Leben wieder auf, war ständig auf Tournee und in den After-Hours Clubs und hatte ein eigenes Apartment in New York. Fenja und Benjie kehrten nach Dänemark zurück, es gab ein erbittertes Scheidungsverfahren, seitdem durfte Fenja nie wieder erwähnt werden.

In den USA konnte er unmittelbar daran mitwirken, so etwas wie eine Bebop-Renaissance auszulösen. Seine umjubelten Auftritte im New Yorker Village Vanguard, die auch auf Platte (Homecoming – Live at the Village Vanguard) gepresst wurden, trugen jedenfalls sehr dazu bei. Die Platte, bei Columbia erschienen, wurde ein riesiger Erfolg, dem viele weitere häufig ausverkaufte Live-Auftritte folgten.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – Fried Bananas (live 1977)

Im Juni 1978 wurde Dexter sogar vom damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter zu einer Jazz-Party ins White House eingeladen, die dieser aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums des Newport Jazz Festivals gab. Auch das folgende Album, Sophisticated Giant, das Dexter mit einer opulenten Besetzung (Benny Bailey und Woody Shaw an den Trompeten, Frank Wess an der Flöte, Bobby Hutcherson am Vibraphon…) aufnahm und von Slide Hampton arrangieren ließ, darf zu seinen allerbesten gezählt werden. Für seine Live-Auftritte hatte er zudem eine Working Band nach seinem Geschmack, mit George Cables am Piano, Rufus Reid am Bass und Eddie Gladden am Schlagzeug. Mit dieser, seiner Dream Band, nahm er die LP Manhattan Symphonie auf. Gordon spielte nicht nur in Clubs in fast allen US-Bundesstaaten, sondern auch in immer größeren Konzertsälen, so z.B. in der Carnegie Hall und mit den CBS-All-Stars beim Montreux Jazz Festival. Er erhielt etliche Auszeichnungen, wurde zweimal zum Musiker des Jahres der renommierten Fachzeitschrift Down Beat gewählt. Tourneen in Europa, Brasilien und in der Karibik folgten.

Hörbeispiel: Dexter Gordon – The Moontrane (1977)

Hörbeispiel: Dexter Gordon Quartet – I Told You So (1978)

Der Jazzer als Oscar-Anwärter

Die Kehrseite der Medaille war: In den Staaten stieg sein Alkoholkonsum erheblich an, auch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Am Tag seines 60. Geburtstags, den er – natürlich! – mit einem Konzert im Village Vanguard feierte, sagte er zu Maxine, er sei müde und brauche eine Pause. Maxine, die Verfasserin seiner Biographie, war zunächst seine Road-Managerin (sie hatte zuvor eine Beziehung mit dem Trompeter Woody Shaw, mit dem sie auch einen 1978 geborenen Sohn hatte) gewesen. Erst 1983 wurde aus der Geschäftsbeziehung und langjährigen Freundschaft eine Liebesbeziehung. Und die beiden führten fortan, gemeinsam mit Woody jr., so etwas wie ein normales Leben ohne Tournee-Stress, dafür mit langen Ferienaufenthalten in Mexiko (wo das Paar dann später dauerhaft wohnte). Daran änderte sich nur noch einmal etwas Gravierendes, im Jahr 1985, als der CBS-Präsident Bruce Lundvall ihm den Vorschlag machte, in einem Film von Bertrand Tavernier einen Jazz-Musiker zu spielen. 

Mit schon über 60 Jahren übernahm Dexter – fast möchte man sagen: passender Weise – in dem Film “Round Midnight” die Hauptrolle eines trunksüchtigen, erschöpften und dem Tode nahen Jazz-Musikers in Paris, der von einem jungen Franzosen bewundert wird und sich mit ihm anfreundet. Obwohl auch Dexter während seiner Zeit in Europa des Öfteren in Paris war, ist der Film keineswegs biographisch, sondern orientierte sich am Leben anderer großen Bebop-Musiker, nämlich vor allem an dem von Bud Powell, aber auch von Lester Young. Dexter arbeitete intensiv am Drehbuch und an den Dialogen mit. Ihm war es wichtig, dass das Leben der Jazz-Musiker, so wie er und seine Kollegen es erlebten, wirklich realistisch dargestellt wurde. Und sehr wichtig: Dexter spielte sich nicht selbst, denn er war (und fühlte sich auch nicht so!) keine tragische Figur wie Dale  Turner  im Film. Dexter spielte Dale Turner, und genau deshalb, für diese Rolle (die ihn endgültig zur Kultfigur machte) wurde er 1987 verdientermaßen als bester Hauptdarsteller für den Oscar nominiert – was in mehrfacher Hinsicht mehr als ungewöhnlich war: Zum einen war er kein Profi-Schauspieler, es war vielmehr seine erste Film-Rolle überhaupt. Zum anderen war es damals, Mitte der 80er Jahre, immer noch eine riesige Ausnahme, dass ein Schwarzer für diesen Preis nominiert wurde. Dexter war überhaupt erst der dritte, dem diese Ehre zu Teil wurde. Der Soundtrack des Films, für den Herbie Hancock als Komponist verantwortlich zeichnete, gewann im selben Jahr übrigens einen Grammy.

Mit der „Round-Midnight“ Band ging Dexter auch auf Tournee, spielte auf großen Festivals (Montreux, Umbria, San Sebastian), bei einem Konzert in einem Park in Chicago, das keinen Eintritt kostete, kamen an die 100.000 Zuschauer, um Dexter zu sehen und zu hören. Er wurde überall mit Ovationen bedacht, bekam endlich die Würdigung seines Schaffens, die er schon immer verdient hatte und so lange missen musste.

1988 spielte er noch einmal in einem Film eine Film-Rolle in einer TV-Serie namens „Crime Story“, an der Seite von Pam Grier. Weitere Angebote musste er aber ablehnen, weil sich sein Gesundheitszustand zusehends verschlechterte. Am 25. April 1990 starb Dexter Gordon in Philadelphia, Pennsylvania, an Nierenversagen, nachdem er schon eine Chemotherapie wegen des diagnostizierten Kehlkopfkrebses hinter sich gebracht hatte. Seine Asche wurde, wie er es schon vor seinem Tod gewünscht hatte, auf dem Harlem River verstreut, es gab weder eine Beerdigung noch einen Trauergottesdienst, sondern eine Gedenkfeier im Community Center in Harlem, an der auch zahlreiche Musiker-Freunde teilnahmen, darunter die Saxophonisten Junior Cook, Cecil Payne und Ralph Moore, Slide Hampton hatte die musikalische Leitung übernommen. Lou Rawls sang „Willow Weep for Me“.

Ich erlaube mir zum Schluss noch eine  persönliche Reminiszenz: Ich war zwar 1973 und 1974 jeweils etliche Tage in Kopenhagen und natürlich auch im Montmartre, hatte aber leider nicht das Glück, Dexter Gordon dort erleben zu können. Er war wohl gerade auf Tournee unterwegs. Aber im Frühjahr 1974, wenn mich meine Erinnerung nicht sehr trügt, war es endlich so weit: In München gastierte das Slide Hampton-Joe Haider Orchestra, in dem neben etlichen europäischen Spitzen-Jazzern auch einige Expatriates aus den USA mitspielten, Benny Bailey, Idrees Suliman, der Co-Leader Slide Hampton und eben auch Dexter Gordon. Und das war schon beeindruckend: Er hatte inmitten dieser illustren Gesellschaft keine Sonderrolle, aber sein Charisma und seine musikalische Präsenz waren – wie natürlich auch seine Körpergröße – überragend. Er spielte zwar nur relativ wenige Soli, aber die hatten es wirklich in sich und zählen bis heute zum Besten, was ich je auf einem Tenorsaxophon gehört habe. Von dieser Super-Gruppe, die leider nur diese eine Tournee absolviert hat, gibt es ein einziges Ton-Dokument, immerhin eine Doppel-LP, live aufgenommen im Münchner Jazzclub domicile mit dem Titel „Give Me a Double“. Inzwischen wurde sie auch als CD wiederveröffentlicht, eine unbedingt empfehlenswerte Platte!

Hörbeispiel: Slide Hampton & Joe Haider Orchestra – Like a Blues (Live 1974)


Zum Weiterlesen empfohlen:

Maxine Gordon: Sophisticated Giant. The Life and Legacy of Dexter Gordon. University of California Press, Oakland 2018