Mehr Fortschritt wagen? – Ein Kommentar zum Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien

Nun haben wir sie also, die neue, die „Fortschritts“-Koalition. Und eines muss man ihr lassen: Sie weiß sich zu präsentieren – vom ersten, schon fast ikonischen Vierer-Foto der FDP- und Grünen-Vorstände nach dem ersten Sondierungstreffen bis hin zum an die „Glorreichen Sieben“ erinnernden Bild, auf dem dann auch die SPD-Führung vertreten war. Und dann auch noch die an Willy Brandts legendäre Ankündigung von 1969, mehr Demokratie wagen zu wollen, gemahnende Überschrift für die 177 Seiten des Koalitionsvertrags: „Mehr Fortschritt wagen“.

Ganz schön dick aufgetragen, das alles. Fragen wir also lieber nach der Substanz dieses Koalitionsvertrags, fragen wir nach der Qualität des dort reklamierten Fortschritts. Die Antwort auf diese Fragen wird je nach Blickwinkel, je nach angelegtem Maßstab unterschiedlich ausfallen. Nehmen wir die Bilanz der 16-jährigen Merkel-Ära als Messlatte, dann wird es wahrlich nicht schwierig, „Fortschritte“ zu erzielen. In allzu vielen Politikfeldern hat diese Regierung Probleme und Defizite hinterlassen. Klimaschutz, Energie- und Verkehrswende, Ökologisierung der Landwirtschaft, Digitalisierung, Integrationspolitik, wachsende Armut, Pflegenotstand… Diese Aufzählung ließe sich problemlos verlängern – und sie verbindet sich mit Namen wie Scheuer, Klöckner, Altmaier oder Spahn. Namen, die wir nicht vermissen werden. Also: Angesichts dieser Bilanz kann es unter den Vorzeichen der Ampel doch nur besser werden, oder?

Und in der Tat bietet der Koalitionsvertrag etliche Punkte, deren Realisierung notwendig, eigentlich längst überfällig ist. Die Erhöhung des Mindestlohns muss hier ebenso genannt werden wie die geplanten Reformen im Staatsbürgerschaftsrecht oder der forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien. Und ich könnte auch hier die Aufzählung problemlos weiterführen, es gibt wirklich einiges in diesem Vertrag, was absolut lobenswert ist. So weit, so gut.

Wenn wir jedoch die Perspektive wechseln und uns diesen Vertrag aus der Sicht dessen ansehen, was ich als „objektive Notwendigkeiten“ bezeichnen möchte, dann sieht das Ergebnis schnell anders aus. Doch halt: was soll das sein, diese „objektiven Notwendigkeiten“? Für mich sind das vor allem drei Aspekte, deren Dringlichkeit mir unabweisbar erscheint:

Erstens der viel zu hohe Ressourcen-Verbrauch in Deutschland und vergleichbaren Industrieländern, der sich am alljährlich früheren „Earth-Overshoot-Day“ ablesen lässt.

Zweitens der nach wie vor ungebremste Klimawandel, der die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen grundlegend in Frage stellt.

Drittens die fast schon obszön zu nennende und immer größer werdende Einkommens- und Vermögensschere – und zwar national wie auch global gesehen.

Beginnen wir mit dem dritten Punkt, beginnen wir mit dem Geld. Dass sich hier nichts ändern wird, jedenfalls nichts Gravierendes, dafür hat die FDP schon in den Sondierungsgesprächen gesorgt: Vermögenssteuer? Gibt es nicht. Steuererhöhungen für die Reichen? Gibt es nicht. Schuldenbremse? Bleibt. Die FDP hat ihre wesentlichen Forderungen durchgesetzt, die Geldbeutel ihre Klientel werden nicht angetastet. Damit sich daran nichts ändert, darauf wird Christian Lindner als Finanzminister aufpassen. Prima. Demgegenüber nimmt sich die – wie gesagt: überfällige – Erhöhung des Mindestlohns aus wie der berüchtigte Tropfen auf den heißen Stein. Wobei die gleichzeitige Erhöhung der Grenze für Minijobs den Unternehmen eine gute Chance einräumt, den Mehraufwand beim Mindestlohn zumindest teilweise zu umgehen. Auch am Hartz-IV-Modell ändert sich nichts Grundlegendes – selbst wenn man es jetzt verschämt Bürgergeld nennt. Aber immerhin – die Rente ist doch sicher? Na ja. Durch die Wiedereinführung des sog. Nachholfaktors wird erst einmal die bereits angekündigte Rentenerhöhung ein gutes Stück zurückgenommen, auf ca. 4 Prozent. Bei einer Inflationsrate von derzeit 5,2 Prozent bedeutet das für die Rentner*innen (wie mich – um auch einmal „pro domo“ zu sprechen!) eine reale Einkommensverringerung. Zur sozialen Schieflage des Koalitionsvertrags tragen auch die völlig ungenügenden Pläne in der Wohnungspolitik bei. Denn am Mangel an bezahlbarem Wohnraum – mittlerweile das wohl größte sozialpolitische Problem in Deutschland – ändern auch 400.000 neue Wohnungen pro Jahr nichts Wesentliches, selbst wenn davon 100.000 im Sozialen Wohnungsbau entstehen. Denn eigentlich gibt es in Deutschland genügend Wohnraum. Immer mehr Menschen können sich ihn aber kaum mehr leisten. Um dies zu ändern, wären ganz andere Maßnahmen notwendig: Die Eigentumsfrage müsste gestellt werden – so wie dies die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ mit ihrem gewonnenen  Bürgerentscheid getan hat. Aber von solcherlei Zumutungen will die Ampel-Koalition – natürlich? – nichts wissen…

Ähnlich enttäuschend sieht es aus, wenn man sich das Politikfeld Klimaschutz und Klimawandel genauer anschaut. Klar: Auch hier gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen und Plänen, die weit über das hinausgehen, was unter vier Merkel-Regierungen angedacht oder gar realisiert wurde. Aber: Das 1,5°-Ziel des Pariser Klimaabkommens wird auf diese Weise nicht erreicht werden – das hat eine Analyse des DIW schon sehr deutlich gezeigt. Das liegt nicht nur daran, dass ein schnellerer Ausstieg aus der Kohlewirtschaft (die Formulierung „idealerweise“ bis 2030 muss schon fast als selbstironisch verbucht werden…) nicht gelingen wird oder auch eine spürbare Erhöhung der CO2-Preise nicht vorgesehen ist. Das liegt auch daran, dass ein Ausstieg aus der in jeder Hinsicht klimaschädlichen Massentierhaltung noch nicht einmal ansatzweise im Koalitionsvertrag verankert ist. Und es liegt vor allem daran, dass sich auch in den nächsten vier Jahren im Verkehrssektor (der zum bundesdeutschen CO2-Ausstoß rund 25% beiträgt und dessen absolute Größe seit Jahrzehnten auf unverändert hohem Niveau stagniert!) nichts zum Positiven verändern wird. Diesel-Subvention und Pendlerpauschale bleiben unangetastet. Ein FDPler als Verkehrsminister? Ein wirklich schlechter Witz, der zum schon in den Sondierungsverhandlungen zugesagten Verzicht auf Tempo 130 passt. Ein Minister, der sich vollen Herzens zum Verbrennungsmotor bekennt. Ein Minister, von dem man alles erwarten darf, bloß nicht eine Flächen-Bahn, eine Klima-Bahn. Ein Minister, für den der Begriff „Verkehrswende“ ein Fremdwort ist. Ein Verkehrsminister, dem Andi Scheuer (ja, der beScheuerte Andi!) schon jetzt bescheinigt, jener setze seine „gute“ Politik fort. Horribile dictu!

In diesem Punkt hat die grüne Verhandlungsdelegation, mehr noch als in anderen Punkten, schlicht versagt. Bei ihrem Herzensthema und Markenkern Klimaschutz auf die Einflussnahme auf einen dafür zentralen Politikbereich zu verzichten, das ist für mich nicht nachvollziehbar. Warum haben die Grünen nicht versucht, die  wesentlichen Kompetenzen für Energie- und Verkehrswende (das eine ist ohne das andere ja nicht denkbar!) sowie für Umwelt- und Naturschutz in einem Infrastrukturministerium zusammenzufassen? Den österreichischen Parteifreund*innen ist das doch auch gelungen: Das dort installierte Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie ist ein „Superministerium“, das sich diesen terminus wirklich verdient hat.

Kommen wir zum Punkt Ressourcenverbrauch. Hier wäre ein deutliches „Weniger“ (rund zwei  Drittel) angezeigt, wenn „wir“ nicht weiter auf Kosten der nächsten Generationen und auf Kosten der sog. „unterentwickelten“ Länder des globalen Südens leben wollen. Sozialwissenschaftler nennen diesen Pfad, der für eine nachhaltige Entwicklung, die dieser Bezeichnung gerecht wird, unabdingbar ist, „Subsistenz“. (Die beiden anderen Zauberworte sind „Effizienz“ – also „besser“ – und „Konsistenz“ – also „anders“.) Von Verzicht, das wäre der ehrliche Begriff, traut sich ja ohnehin kaum jemand zu reden. Wie dem auch sei: Der Begriff „Subsistenz“ kommt im Koalitionsvertrag kein einziges Mal vor. Offenbar sind rund zwei Jahrzehnte mit Diskussionen darüber, wie eine „Postwachstums-Ökonomie“ zu erreichen und zu gestalten sei, absolut wirkungslos an den Ampel-Koalitionären verbeigegangen. Bei der SPD und der FDP ist das nicht weiter verwunderlich. Aber bei den Grünen, für die ja auch Sven Giegold in der Verhandlungskommission gesessen ist? Ja, genau jener Sven Giegold, der die deutsche Sektion von attac mitbegründet und an zahlreichen Postwachstumsdebatten wichtigen Anteil hatte und jetzt Staatssekretär im Super-Klimaschutzministerium Habecks wird. Sehr traurig, dass er davon offenbar nichts mehr wissen will!

So finden sich im Koalitionsvertrag genau jene Schlagworte (wie: internationale Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Modernisierung, Technologieoffensive, Marktwirtschaft, Wirtschaftswachstum usw.), die auch in der Vergangenheit als Richtschnur für ein wachstumsgetriebenes Fortschrittsmodell favorisiert wurden: die eines allenfalls grünlich angestrichenen Kapitalismus.  Von der eigentlich notwendigen, grundlegenden sozial-ökologischen Transformation der ressourcenverschlingenden Ökonomie bleibt da nicht mehr viel übrig.

Mein Fazit ist also klar: In seiner politischen, sozialen und ökologischen Substanz ist dieser Koalitionsvertrag über weite Strecken mehr als enttäuschend. Den Herausforderungen der Gegenwart wird er jedenfalls nicht gerecht. Doch durfte man eigentlich mehr erwarten? Wer sich die Wahlprogramme der drei jetzigen Ampel-Parteien angeschaut hatte: wohl kaum. Dennoch beschleicht mich immer wieder das Gefühl, ich hätte am 26. September das Wahlergebnis gründlich missverstanden. Denn der eigentliche Wahlsieger ist, wenn man diesen Koalitionsvertrag Revue passieren lässt, eindeutig die FDP.

Hätte es denn eine Alternative zu dieser Ampel-Koalition gegeben? Arithmetisch sicher nicht, angesichts der weitgehend selbstverschuldeten Schwäche der Linkspartei. Ob die beiden anderen Ampel-Partner der FDP allerdings so weit entgegen kommen mussten, wie sie das letztlich getan haben, wage ich schon zu bezweifeln. Hier liegt die Vermutung nahe, dass das Streben nach Amt und Würde stärker war als die eigenen politischen Überzeugungen… 

Und wo bleibt das Positive? Einiges habe ich ja ganz am Anfang schon genannt. Zugegeben: Allzu viel war das nicht. Der Rest lässt sich in einem Wort, in einem Namen zusammenfassen: Lauterbach. (Wer zufällig die beiden Interviews im Heute-Journal an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gesehen hat – mit Spahn an seinem letzten Arbeitstag, mit Lauterbach an seinem ersten -, wird das verstehen.) Und zumindest in diesem Punkt bin ich ja einig mit der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Wenn das kein Grund zur Hoffnung ist…


Quellen & weiterführende Hinweise

Um die Lesbarkeit dieses Textes zu erleichtern, habe ich im Kommentar auf Zitate, Anmerkungen und Literaturverweise verzichtet. Im Folgenden sind außer dem Koalitionsvertrag selbst einige Artikel und Aufsätze (ohne Anspruch auf Vollständigkeit!) aufgelistet, die mich in meinem Urteil und meinen Bewertungen bestärkt haben.

Wer Interesse an weitergehenden Alternativen hat, möge sich die Beiträge zur Klima-Krise, zur Eigentumsfrage und zur Frage demokratischer Planung hier auf diesem Blog zu Gemüte führen.

Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP). O.O., o.J.

Aktivistin über Bürgergeld-Pläne – „Neue Worte für das Gleiche“. In: taz, 26.11.2021

DIW Econ GmbH: Ein Koalitionsvertrag für ein klimaneutrales Deutschland? Eine Studie für die Klima-Allianz Deutschland. Berlin, 3.12.2021

Alexandra Föderl-Schmid: Habecks Fehlkonstruktion. In: Süddeutsche Zeitung, 8.12.2021

Sebastian Friedrich: »Aufbruch«, »Zukunft«, »Fortschritt«: Die Floskel-Koalition nimmt Gestalt an. In: ak 675, 19.10.2021

Michael Jäger: Stille Macht. In: der Freitag, 4.12.2021

Andreas Knie: Die drei Verkehrs-Trojaner. In: Klimareporter, 2.12.2021

Albrecht von Lucke: Ampel auf Grün. Die sozial-ökologisch-liberale Illusion? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2021, S. 5-10

Albrecht von Lucke: Wollte Olaf Scholz nicht eigentlich Klimakanzler werden? In. Der Freitag, 8.12.2021

Wolfgang Pomrehn: Abschied von der integrierten Bahn? In: Telepolis, 8.11.2021

Eva Roth: Minijob – Rauf mit dem Mindestlohn, raus aus dem Mindestlohn. In: OXI-Blog, 2.12.2021

Martin Randelhoff: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Verkehrspolitische Vorhaben der Bundesregierung bis 2025. In: Zukunft Mobilität, 24.11.2021

Suffizienz im Lichte der ökologischen Nachhaltigkeit im Koalitionsvertrag. In: #KAUFNIX – Kampagnen-Webseite der Deutschen Umweltstiftung, 2.12.2021

Was bedeuten die Pläne der Ampel-Koalition für Mieterinnen und Mieter? In: der Freitag, 3.12.2021

Bemerkenswertes „Alterswerk“: Heiner Monheims neue Beiträge zur Verkehrswende

Wer sich in Deutschland mit Stadtplanung und Verkehrspolitik befasst, der kennt den Namen Monheim spätestens seit dem Erscheinen des epochalen Werks „Straßen für alle“ im Jahr 1991. In diesem Buch fasste Heiner Monheim in überzeugender Weise Stand und Perspektiven einer fortschrittlichen, ökologischen Verkehrswende zusammen. Über 25 Jahre später, Monheim ist inzwischen 73 Jahre alt, präsentiert der unermüdliche Streiter für eine menschen- und umweltfreundliche Mobilität seine Erkenntnisse und die seither gesammelten Erfahrungen noch einmal. In einem vierbändigen Werk, das sich in jeweils einem Buch mit den wesentlichen Verkehrsmitteln (Rad, zu Fuß gehen, ÖPNV und Auto) befasst. Und Monheim ist wohl wie kaum ein anderer prädestiniert für diese Aufgabe. Das Spektrum seiner Erfahrungen in Theorie und Praxis, in Forschung und Planung sowie durch sein Engagement in und für Umwelt- und Verkehrsverbände ist immens. Man darf wohl sagen: Mit diesen vier Bänden zieht Monheim ein umfassendes Resümee seines Berufslebens.

Schon die Titel der jeweiligen Bücher machen deutlich, dass Monheim seinem Credo treu geblieben ist: Während die drei ersten Bände mit einem „Wege zur…“ (… Fahrradstadt, Fußgängerstadt, Stadt der Busse und Bahnen) beginnen, ist der abschließende mit „Auswege aus…“ (… der Autostadt) überschrieben. Eine gelingende Verkehrswende, das ist für Monheim immer noch ganz klar, muss das Auto auf die intelligente und effiziente Abwicklung des „Restverkehrs“ beschränken.

In den hier zu besprechenden Bänden geht es um den Fuß- und den Radverkehr. Das Gehen, die eigentlich wichtigste und grundlegendste aller Verkehrsarten, ist laut Monheim aber immer noch ein Stiefkind von Planung und Verkehrspolitik. Schon das Vorwort ist ein Genuss. Hier entwirft Monheim das Bild einer fußgängerfreundlichen Stadt unter dem Motto „Wie schön könnte Gehen sein…“. Zum Beispiel, wenn der „parkende“ Fußgänger (also der, der sitzt oder stehenbleibt) „genau so viel politische und planerische Aufmerksamkeit fände, wie das geparkte Auto“.

Monheim geht das Thema sehr grundsätzlich an: er beleuchtet die Geschichte des Gehens und gibt einen Überblick über wichtige Veröffentlichungen zur Thematik sowie über die empirischen Ergebnisse der Fußverkehrsforschung. Aus der Analyse der Bedürfnisse und Eigenschaften des Fußgängers leitet er entsprechende Planungsansätze ab und stellt sie der „traurigen Wirklichkeit“ des Gehens gegenüber. Als Hauptproblem erweist sich – natürlich – der Autoverkehr, der verträgliche Schmerzgrenzen längst überschritten hat und deshalb vermieden, verringert, verlangsamt und verlagert werden müsste. Monheim diskutiert die Strategien der Planung autofreier Straßen und Gebiete (die Konflikt-Lösung) und der Verkehrsberuhigung und Mischung der Verkehrsarten (die Koexistenz-Lösung). Im letzten Teil macht er viele ganz konkrete und sehr detaillierte Vorschläge, wie die Bedingungen des Fußgänger-Lebens nachhaltig verbessert werden könnten. Wunderbar zum Beispiel die Radikalität (S. 177: „Die bedingungslose Autozulassung muss beendet werden.“), mit der er gegen das ubiquitäre Parken und die dadurch verursachte Verdrängung der umweltverträglichen Verkehrsarten vorgehen will!

In dem Band, der dem Radverkehr gewidmet ist, behandelt Monheim die Frage, wie das von der Massen-Motorisierung in jeder Hinsicht (planerisch, räumlich und finanziell!) ebenfalls in eine Rand-Rolle gedrängte Fahrrad wieder einen höheren Stellenwert und vor allem viel mehr Platz und Investitionsmittel bekommen kann. Klar ist für ihn: Wenn aus Deutschland wieder ein Fahrrad-Land werden soll, dann müssen dafür viele Milliarden Euro ausgegeben werden. Und zwar durch eine massive Umschichtung der Verkehrsetats. Statt Autobahnen, Ortsumgehungen und Parkhäuser müssen Rad(schnell)wege und andere Infrastruktur-Maßnahmen für einen schnellen, bequemen und sicheren Radverkehr geschaffen werden.

Auch mit diesem Buch hat Monheim ein detailreiches und umfassendes Werk vorgelegt, das die Potenziale einer fahrradfreundlichen Stadt- und Verkehrsentwicklung aufzeigt und einen sehr differenzierten Maßnahmenkatalog bereitstellt, um eine durchgreifende Renaissance des Radverkehrs in Deutschland zu ermöglichen.

Ganz wichtig ist ihm dabei, die unproduktive Frontstellung in der gegenwärtigen Verkehrsdebatte („Radl-Rowdy“ contra „Auto-Rüpel“) aufzulösen. Monheim geht es darum, die Voraussetzungen „für eine vernünftige Koexistenz im Verkehr“ (S. 108) aufzuzeigen. Sein Buch ist deshalb nicht nur eine Fundgrube für engagierte Rad-Aktivist*innen, sondern auch und gerade notorischen Auto-Fans zu empfehlen.

Fazit: Beide Bände sind wirklich lesenswert und äußerst inhaltsreich, sie sind auch sehr gut strukturiert und lesbar. Monheim macht – zum wiederholten Male – deutlich: Andere Mobilitätsstrukturen, für die die Minimierung der Auto-Menge unabdingbare Voraussetzung ist, sind möglich, eine Verkehrswende ist machbar – wenn sie denn politisch gewollt wird. Mithin wünsche ich diesen Büchern viele Leser*innen. Vor allem solche, die in den Amtsstuben der Rathäuser und in den Stadt- und Gemeinderäten sitzen.

Heiner Monheim: Wege zur Fußgängerstadt. Analysen und Konzepte. VAS, Hohenwarsleben 2018, 224 Seiten. 17,80 EUR

Heiner Monheim: Wege zur Fahrradstadt. Analysen und Konzepte. VAS, Bad Homburg 2017, 234 Seiten. 17,80 EUR